Boris Pasternak by Dr Shiwago

Boris Pasternak by Dr Shiwago

Autor:Dr Shiwago [Shiwago, Dr]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-06-05T16:00:00+00:00


Tonja stand auf dem Bahnsteig von Torfjanaja und zählte zum zigsten Male die Familie und die Gepäckstücke, um sich zu vergewissern, daß sie nichts im Zug vergessen hatten. Ihre Füße spürten den festgestampften Sand des Bahnsteigs, aber die Furcht, an der richtigen Station vorbeizufahren, hatte sie noch nicht verlassen, und das Rattern des rollenden Zugs klang ihr noch in den Ohren, obwohl sie sich durch den Augenschein überzeugen konnte, daß er vor ihr am Bahnsteig stand. Das hinderte sie, etwas zu sehen, zu hören oder zu denken.

Ihre Reisegefährten verabschiedeten sich von der Höhe des Güterwaggons herab. Tonja nahm sie nicht wahr. Sie merkte auch nicht, wie der Zug abfuhr, und entdeckte sein Verschwinden erst, als sie auf einmal das zweite Gleis und dahinter das grüne Feld und den blauen Himmel sah.

Das Stationsgebäude war aus Steinen gemauert. Rechts und links von seinem Eingang stand je eine Bank. Die Reisenden aus dem Moskauer Stadtteil Siwzew Wrashek waren als einzige hier ausgestiegen. Sie stellten die Sachen ab und setzten sich auf eine der Bänke.

Sie waren verblüfft über die Stille, Menschenleere und Sauberkeit der Station. Es kam ihnen ungewohnt vor, daß es hier kein Gedränge und kein Gefluche gab. Das Leben war in diesem Krähwinkel hinter der Geschichte zurückgeblieben. Die Verwilderung der Hauptstadt hatte ihn noch nicht ereilt.

Die Station lag in einem Birkenwäldchen verborgen. Im Zug war es schon dunkel geworden, als er hier einfuhr. Über Hände und Gesichter, über den feuchten gelben Sand des Bahnsteigs, über die Erde und die Dächer huschten die Schatten der wogenden Birkenwipfel. Das Zwitschern der Vögel paßte zu der Frische des Wäldchens. So rein wie die Unwissenheit erfüllten die vollen Töne den Wald und durchdrangen ihn ganz. Durch den Wald schnitten sich die Eisenbahn und eine Schneise, und die Bäume verhängten beide gleichermaßen mit ihren wehenden, herabhängenden Zweigen wie mit den Enden weiter, bis zum Boden reichender Ärmel.

Plötzlich waren Tonjas Augen und Ohren wieder offen. Alles rückte auf einmal in ihr Bewußtsein: das Vogelkonzert, die Reinheit dieser Waldeseinsamkeit, die Friedlichkeit der vergossenen Stille ringsum. In ihrem Kopf formte sich der Satz: »Ich konnte nicht glauben, daß wir heil ans Ziel gelangen. Verstehst du, dein Strelnikow hätte ja auch, nachdem er dich großzügig hatte gehen lassen, den Befehl hierher telegrafieren können, uns alle beim Aussteigen festzunehmen. Ich glaube nicht an den Edelmut von denen, mein Lieber. Das ist alles nur zum Schein.« Statt dessen sagte sie etwas anderes. »Wie schön«, entfuhr es ihr angesichts des Zaubers rundum. Weiter brachte sie nichts hervor. Tränen würgten sie. Sie weinte laut.

Ihr Schluchzen wurde gehört, und aus dem Gebäude kam der alte Stationsvorsteher. Er trippelte zu der Bank, legte höflich die Hand an den Schirm der Uniformmütze mit dem roten Deckel und fragte: »Vielleicht soll ich dem Fräulein Beruhigungstropfen aus der Bahnhofsapotheke holen?«

»Danke. Es ist nichts. Das geht vorüber.«

»Die Sorgen und Unruhen der Reise. Man kennt das, es ist verbreitet. Dazu diese afrikanische Hitze, selten in unseren Breiten. Und obendrein die Ereignisse in Jurjatin.«

»Wir haben im Vorbeifahren Brände gesehen.«

»Dann müssen Sie wohl aus Rußland kommen, wenn ich mich nicht irre.



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